.. mit Dr. Wolfgang Herrmann
- Kunsthistoriker in London
Ich
habe Sempers Studienjahre aus zwei Gründen gewählt: einmal, weil kürzlich
entdeckte Briefe ein verändertes Bild seiner Studienzeit geben,
dann aber vor allem, weil sie eine Seite seiner Persönlichkeit
beleuchten, die seinem theoretischem Werk für eine Reihe von Jahren
eine bestimmte Richtung gab.
Der gewöhnlich über diese frühen
Jahre gegebene Ablauf ist ihnen bekannt: Er studierte für einige
Semester Mathematik in Göttingen, entschied sich dann für
Architektur, ging zu Gärtner nach München, arbeitete für kurze Zeit
an der Aufnahme des Regensburger Domes, war in ein Duell verwickelt
und floh nach Paris, wo er Gauls Schüler wurde. Dieses etwas dürre
Gerippe kann man jetzt mit etwas Fleisch und Blut versehen und ihm überhaupt
eine neue Gestalt geben.
Der junge Semper 16 oder
17 Jahre alt — erhielt
seine humanistische Ausbildung in Hamburgs ältester und angesehendster
Schule, dem Johanneum. Dessen Leiter war damals K. H. HIPP, ein noch
heute anerkannter Mathematiker. Hipp erkannte bald Sempers natürliche
Begabung für Mathematik, und es war Hipp, auf dessen dringenden Rat
hin Semper sich für ein Studium der Mathematik an der Universität
Göttingen entschied. Göttingen zählte unter den Mitgliedern
seiner mathematischen Fakultät zwei Mathematiker von internationalem
Ruf: K. F. GAUSS und B. F. THIBAUD. Semper belegte die Kollegien
beider Männer, insbesondere das von Thibaud, aber auch das von A.
HEEREN, dem großen Historiker des sozialen und ökonomischen Lebens
der Völker der alten Welt, wobei es bedeutsam sein mag, daß das
von Semper erwählte Kolleg Heerens die auf Zahlen gegründete „Statistik“,
nicht „Sozialgeschichte“ war - er wählte
es, obwohl er Heeren, dessen Sohn sein enger Freund war, persönlich
gekannt haben muß.
Außerdem studierte Semper Physik und las Newtons
Principia, die er „ungeheuer interessant, aber auch etwas abstrus
und (was nicht zu verwundern ist) schwer zu verstehen“ fand.
Nach
drei Semestern berichtete er, daß er sich fast ausschließlich mit
Mathematik beschäftigt habe, ein Gebiet, an dem er immer mehr
Gefallen fände, je mehr sich seine Kenntnisse darin erweiterten.
Als seine Eltern und auch Prof. Hipp, mit dem er die ganze Zeit
hindurch in Beziehung stand, ihm anrieten, von Mathematik zur
einbringlicheren Jura umzusatteln, widersetzte er sich diesem Rat,
sieht aber immerhin ein, daß es ihm schwerfallen würde, mit
Mathematik allein seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er habe — so argumentiert er —
sich
bislang mit Mathematik beschäftigt und werde dies auch hoffentlich
weiter tun. Es gäbe ja viele Fächer des Erwerbs, die mathematische
Kenntnisse voraussetzen, er werde unter diesen eines auswählen. Die
Wahl, die er dann trifft, ist auf den ersten Blick sehr seltsam:
Artillerieoffizier in der preußischen Armee!
Der Entschluß bleibt merkwürdig, bis ein Brief des
jungen Heeren die Erklärung gibt. Gebeten von Semper — zu der
Zeit noch in Hamburg, ein Logis in Göttingen zu besorgen, teilt
Heeren ihm in diesem Brief mit, daß er ein passendes Logis gefunden
habe, auch könne — setzt er
hinzu — „dein Kriegsspiel gut darin stehen, ohne es allzu
eng zu machen; du wirst das Brett doch wohl nicht mitbringen oder
kannst dir hier ja ein etwas kleineres machen lassen.“ Aus diesem
Brief und einem anderen, in dem ein die Gegenseite dirigierender
Freund genannt wird, geht hervor, daß der junge Semper sehr
interessiert an militärischer Taktik und Strategie war und
anscheinend berühmte Schlachten auf seinem Brett rekonstruierte. Daß
dies keine jungenhafte Spielerei war, sondern, daß
ein tiefer liegendes Interesse zugrunde lag, ergibt sich aus
detaillierten
Ratschlägen, die er in den revolutionären vierziger Jahren seinem
Bruder über die gegen die angreifenden Dänen anzuwendende Taktik
gab, ergibt sich auch aus einem Brief von Göttingen, in dem er
gesteht, daß sein „sehnlicher Wunsch, die Trauerhöhen von
Waterloo zu sehen“, mit ein Grund für eine Reise nach den
Niederlanden war.
Wirklich bedeutsam in diesem Zusammenhang ist aber
die Tatsache, daß — gedrängt, seinen Beruf zu wechseln — seine
erste Wohl auf eine Laufbahn fiel, die nicht im Entferntesten irgend
etwas mit Kunst zu tun hatte — er war für einen Beruf, in dem seine
Neigung zur Mathematik und seine neu erworbenen Kenntnisse in
mathematischen Kalkulationen (sei es in Verbindung mit Strategie
oder im Flug von Projektilen) im Mittelpunkt seines neuen Berufslebens
stehen würden.
Jedoch am Ende kam es gar nicht dazu: Das preußische
Offizierskorps nahm keine Bürgerlichen auf. Daraufhin nahm er eins
mehr realistische Haltung an und wählte Hydraulik als das Gebiet, wo
ihm seine mathematischen Kenntnisse nützlich sein würden. Mit einem
Empfehlungsschreiben von Thibaud stellte er sich beim Oberbauinspektor
in Düsseldorf vor (1825). Ob dieser Versuch erfolglos war (wie auch
ein anderer beim Delfter Kanal-Institut) oder ob er auf ein späteres
Inbetrachtziehen vertröstet wurde — er beendete 6 Monate später
seine Studien, verließ Göttingen und reiste nach München.
Die
Trennung von Göttingen fiele ihm schwer, schrieb er Ende 1825 seinem
Bruder Wilhelm, das letzte Semester sei die schönste
Periode seines Lebens gewesen, zu der er sich stets mit Sehnsucht zurückwünschen werde, und er bat ihn, in dem Koffer mit
seinen Sachen „aus dem großen Konvolut von Heften, die er
aus der Schule mitgebracht habe, auch die Schriften über Archäologie
der Griechen und Römer einzupacken — sie sind recht gut und können
mir nützen.“
All dies hört sich nicht so an, als ob er sich
entschlossen hätte, Architekt zu werden. Er schrieb sich zwar in
die Architekturklasse der Akademie ein und mag einige Vorlesungen
besucht haben, doch konnten sie ihm nicht viel bedeutet haben, da er
in einem langen Brief, den er später von Paris an seinen Münchner
Freund schrieb, weder die Vorlesungen noch Gärtner erwähnte.
Ich
glaube, er mag einen anderen, mehr plausiblen Grund gehabt haben, nach
München zu gehen: Das grundlegende Werk über die Hydraulik "Die.
theoretisch-praktische Wasserbaukunst“ war kürzlich in 2. Auflage
in München
erschienen: der Verfasser war C. F. von WIEBEKING, Ministerialrat für
die Abteilung Wasser- und Straßenbau. Er war eine Autorität auf
diesem Gebiet und Mitglied der Akademie. Obgleich er 1817 in den
Ruhestand trat und Semper deshalb nicht hoffen konnte, von Wiebekings
Lehrtätigkeit zu profitieren, ist es dennoch möglich, daß es
eine auf Wiebekings Ruf und Werke gegründete Nachfolge gab und daß
Semper aus diesem Grund München als den richtigen Ort gewählt
hatte, wo er seine Kenntnisse in der Wasserbaukunst erweitern und
damit seine Aussichten auf Anstellung verbessern konnte. Wie dem auch
sei — er blieb nicht lange in München. Er war, wie er es ausdrückt,
„in einem schlechten Verhältnis mit der Polizei, die mir stets auf
den Fersen war." Deshalb hielt er es nach einem Duell für ratsam,
bayerisches Gebiet zu verlassen und in Heidelberg die Dinge
abzuwarten. Dort traf er alte Freunde, machte neue Bekanntschaften,
war von vielen geliebt — kurz, die Heidelberger Zeit war „einer
der Lichtpunkte seines Lebens". Nach zwei Monaten, hoffend, daß
die Lage in Bayern sich beruhigt hätte, reiste er zurück, aber nicht
nach München. Er wanderte durch den Odenwald nach Würzburg, Nürnberg
und schließlich nach Regensburg, wo er sich in ein Haus in der Nähe
seines Schulfreundes Bülau einquartierte. Bülau arbeitete zusammen
mit dem Architekten Popp an der Aufnahme des Regensburger Dorns.
In
einem Brief bemerkt Semper ausdrücklich, daß er an dieser Arbeit
nicht teilnahm, stattdessen aber die Zeit nutzte, seine Kenntnisse
in Hydrostatik und Hydraulik zu erweitern, sicherlich in der Hoffnung,
daß sich ihm schließlich doch eine Stellung als Ingenieur in diesem
Fach bieten würde. In der restlichen Zeit begleitete er den
Architekten des Fürsten von Thurn und Taxis auf dessen
Inspektionsreisen.
Er bezweifelte, daß er viel Nutzen zog von diesen Touren, aber genoß
die Fahrten durch die schöne Landschaft in Begleitung eines Mannes,
der bald sein Freund wurde. Er lernte Mitglieder des Landadels kennen,
liebenswürdige Menschen, die er sehr schätzte.
München besuchte er
nur zweimal. Frei und glücklich, genoß er das Leben vollauf —
allerdings mit dem Resultat, daß er wiederum in Liebeshändel
verwickelt war mit eifersüchtigen Ehemännern und Duellen, was ihn
wieder mit der Polizei zusammenbrachte. Als sein Freund Heeren auf dem
Weg nach Paris durch Regensburg kam, entschloß sich Semper, mit ihm
zu reisen, nicht nur, um auf diese Weise der polizeilichen Beobachtung
zu entgehen, sondern auch weil er „die eiserne Notwendigkeit, einmal
recht fleißig sitzen zu müssen“, einsah. Mit all diesen
Einzelheiten jetzt bekannt geworden, ist es klar, daß Semper unmöglich
ein Gärtner-Schüler genannt werden kann. Eine Woche vor
Weihnachten 1826 traf er in Paris ein, 23 Jahre alt, bewandert in
technischem Wissen, geeignet für eine Ingenieurstellung und möglicherweise
mit etwas Erfahrung in baulichen Dingen. Entschlossen, nicht mehr
seine Zeit zu vertrödeln, besuchte er die Privatschule, die F. Chr.
GAU kurz vorher eröffnet hatte. Er sei „ein vortrefflicher Mann“,
von dem er schon ziemlich profitiert habe“.
Alles, was die
Weltstadt bieten konnte, zog ihn natürlich an. Ich glaube, es war zu
dieser Zeit (er hatte immer noch keine Stellung), daß seine häufigen
Besuche im Jardin des Plantes stattfanden, von denen er später in
einem oft zitierten Passus eines Londoner Vortrages sprach: " ...
wie er aus dem sonnigen Garten wie durch magische Gewalt in
jene Räume gezogen wurde, in denen Baron Cuviers Sammlungen von
fossilen Überresten des Tierreiches der Vorwelt in langen Reihen
ausgestellt
sind, zusammen mit den Skeletten der jetzgen Schöpfung. Dort sehen
wir, wie die Natur vorgeht, wie dasselbe Skelett sich fortwahrend wiederholt, jedoch mit unzähligen Variationen, modifiziert durch
die stufenweise Entwicklung der Individuen“.
Es war bedauerlich, daß
Hans Semper in der Biographie seines Vaters diesen Passus zitierte
als Beweis, daß Semper nur einen Schritt von Darwins Theorie entfernt
war, daß er sogar diesen Schritt schon vor Darwin gemacht hätte und
daß seine, Darwin gleichenden, evolutionären Ideen vom Studium von
Cuviers Werk herrührten. Hans Sempers Behauptung wurde lange Zeit
in der Literatur über Semper wiederholt, und als sie schließlich
mit Recht widerlegt wurde, weil Cuviers konservativer Glaube in die
Beständigkeit der Spezien nichts gemein hatte mit Darwinscher
Evolution,
hatte dies zur Folge, daß die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit
von Cuviers lang anhaltendem Einfluß auf Semper geleugnet oder
zumindest
als unbedeutend angesehen wurde.
G. CUVIER, daran muß man erinnern, war zur Zeit von Sempers
Ankunft in Paris vielleicht die meistgefeierte Persönlichkeit der
Pariser Intelligenz. Sein Werk und das Museum waren international berühmt,
besonders in Deutschland. Semper — geschult, an technische und
wissenschaftliche Probleme mit den Methoden der Mathematik und einer
präzisen Beobachtung heranzugehen — war tief beeindruckt von der
Art, mit der Cuvier Ordnung in die scheinbar willkürliche VieIfaIt
von Tieren gebracht hatte. Wie so
viele andere auch,
wird Semper das durch die vergleichende Methode vollzogene große
klassifikatorische Werk als einen genialen Wurf bewundert haben.
Balzac sprach einmal von Cuvier als „le plus grand poete de notre
siecle“ und dachte daran, die menschliche Gesellschaft mit dem
Tierreich zu vergleichen. „Die Erkenntnis“, schreibt Cuviers
Biograph, „daß organische Natur geordnet und doch mannigfaltig ist,
war sicherlich einer von Curviers größten Beiträgen zur
Naturwissenschaft.“ Der Überblick über die langen Reihen von
Tausenden von Tierskeletten ließ Semper den ungeheuren Wert der
Klassifizierung erkennen und löste in ihm den Gedanken aus, daß die
gleiche Methode Ordnung bringen möge in die Vielfalt der Bauten,
die ihn in Gaus Lehrstunden verwirrt haben mag.
Dennoch strebte Semper
immer noch seinem Hauptziel nach, sich für einen Posten als Hydroingenieur
zu qualifizieren. Im Mai 1827 bat er seinen Freund Dobner um
Mitteilung, welche Chancen er hoben würde, ein Examen (scheinbar
ein bayerisches) zu bestehen, für welches er zumindestens die
notwendigen Vorkenntnisse habe: Mathematik, Statik, Hydraulik; von den
Kenntnissen der schönen Baukunst fehle ihm zwar vieles, allein es
sei zu Recht kein rigorosum verlangt. Die Antwort scheint entmutigend
gewesen zu sein, da er im Mai des folgenden Jahres sich noch einmal um
die Stelle eines Hilfsingenieurs in Bremerhaven bemühte — diesmal
erfolgreich. Dennoch fand er die Arbeit unzufriedenstellend, so kehrte
er nach über einem Jahr nach Paris zurück. Doch jetzt sah alles
anders aus, er wußte, was er wollte — ein Architekt werden. Er
studierte ernsthaft, wurde tatsächlich Gaus vielversprechendster
Schüler.
Seine
baukünstlerische Ausbildung umfaßte nicht mehr als zwei durch lange
Abwesenheit getrennte Perioden, von denen jede kaum länger als ein
Jahr dauerte — eine erstaunlich kurze Ausbildung, verglichen mit der
seiner Zeitgenossen. Das neue Bild seiner Studienzeit ermöglicht
(klarer vielleicht als bisher) zu erkennen, welch große Begabung
er gehabt haben muß für den Beruf, den er am Ende erwählte.
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